Züge: Eine fahrende Leinwand
Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Bemalung von Zügen die Königsdisziplin des Graffiti. Die Subkultur und Jugendbewegung, deren Wurzeln sich zu einem emsigen griechischen Fahrradboten zurückverfolgen lassen, erhob die New York Subway einst als fahrende Leinwand einst in den Adelsstand. Nur der Zug als Medium schaffte es, die gesprühten Kunstwerke über die Grenzen des eigenen Viertels hinaus bekannt zu machen. Es dauerte nicht lange und die New Yorker U-Bahn sah aus wie in den Farbtopf gefallen. Erst 1989 gelang es den Betreibern im Zuge des Clean Train Movements den letzten bemalten Zug aus dem Regelverkehr zu ziehen. Fortan wurden besprühte Wagons sofort zur Reinigung gefahren und nahmen den Sprüher so das Erfolgserlebnis der rollenden Leinwand im Fahrbetrieb. Heute wird man in New York keinen besprühten Zug mehr zu Gesicht bekommen. Nicht nur das die Abstellgleise extrem gesichert sind, ein bemalter Zug wird auch umgehend gereinigt und am besten nachts zur Reinigungsanlage überführt.
Als die Graffiti Kultur in den 80er Jahren nach Deutschland kam, begannen Sprüher auch hier bald Züge zu besprühen. Aufgrund der unterschiedlichen infrastrukturellen Begebenheiten, wurden je nach Herkunftsort der Sprüher sowohl Regional- und Fernbahnen, als U- und S-Bahnen besprüht. In Graffitikreisen gelten letztere dabei als interessanteres Ziel als die normalen Züge der Deutschen Bahn. Denn die Szene honoriert immer das in Kauf genommene Risiko, den Aufwand und die Komplexität der Bilder. So waren/sind die kaum bewachten Regionalbahnen der privaten, Kaltenkirchener Bahngesellschaft AKN zwar leicht zu bemalende und im Grunde damit lohnende Ziele für Hamburger Sprüher, werden aber aufgrund der recht niedrigen Hürde als eher einfache Anfängerziele gesehen. Das bemalen eines streng bewachter Prototyps einer neuen U- oder S-Bahn Serie, wird szeneintern hingegen hoch gewürdigt.
Es erscheint ein wenig paradox, dass Züge, die als fahrende Leinwände einst die Bilder der Sprüher in jeden Winkel der Stadt, oder gar der Republik gebracht haben, immer noch so hoch angesehen sind, obwohl sie mittlerweile oft so schnell gereinigt werden, dass selbst die Verursacher kaum Fotos ihrer eigenen Werke bekommen. Während bemalte S-Bahnen in Hamburg noch gelegentlich im Regelverkehr zu sehen sind, werden bemalte U-Bahnen gar nicht mehr zum Personentransport eingesetzt und gehen direkt in die Reinigung. Trotzdem genießen Graffitis auf U-Bahnen ein sehr hohes Ansehen.
Der Mythos „Zug“ lebt und wird durch immer neue Aktionen, die mit Fotos und Videos begleitet werden, weiter befeuert.